Liebe Brüder und Schwestern im Glauben!
Mit dem heutigen Sonntag starten wir in St. Ludwig wieder unsere Fastenpredigtreihe. Thema diesmal – wie kann’s im Reformationsjubiläum und Lutherjahr auch anders sein – sind die drei sogenannten sola-Formeln, die das Gesamt der reformatorischen Erkenntnis auf den Punkt bringen wollen. Der Mensch findet Luther zufolge Rettung und Heil einzig und allein sola gratia, sola fide und sola scriptura: sola gratia – allein aus Gnade (und nicht aus eigener Macht und Freiheit); sola fide – allein aus dem Glauben (und nicht aus eigener Leistung und selbst hergestellter Sicherheit); sola scriptura – allein aus dem Lesen und Befolgen der Heiligen Schrift (und nicht durch ein kirchliches Lehramt).
Diese drei sola-Formeln bündeln sich bei Luther in einer vierten, mit der wir die Reihe am ersten Aprilwochenende dann abschließen werden: solus Christus – allein Christus ist das, was wirklich zählt im Leben und im Glauben der Christen.
Mein Thema heute ist das sola gratia. Allein aus Gottes Gnade sind wir gerettet, nicht aber aus eigener Macht und Freiheit. So steht es im heutigen Lesungstext aus dem Zweiten Timotheusbrief: „Er (Gott) hat uns gerettet, … nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade“. Dieses uralte Wort „Gnade“ hat einen seltsamen Klang. Wir kennen es aus der Heiligen Schrift. Hier ist es ein Grundwort für Gottes Handeln an uns. Und wir kennen es natürlich aus unserer Liturgie- und Gottesdienstsprache. In unzähligen Gebeten, Predigten, Andachten usw. kommt es wie selbstverständlich vor. Zugleich nimmt sein Gebrauch in der Alltagssprache rasant ab. Man kann im Internet Tabellen abrufen, die statistisch nachweisen, wie das Wort „Gnade“ seit dem 17. Jahrhundert bis heute kontinuierlich immer weniger Verwendung findet, uns immer fremder wird. Machen Sie mal die Probe aufs Exempel: Wann haben Sie zuletzt im Alltag, privat oder im Beruf, das Wort „Gnade“ verwendet? So geht es uns mit der „Gnade“ wie mit vielen anderen religiösen Grundbegriffen: Das Wort ist irgendwie verstaubt, antiquiert – aber zugleich entfaltet es gerade so einen seltsamen, geheimnisvollen Glanz. Und irgendwie haben wir eine Ahnung, was es bedeuten könnte – aber zugleich hätten wir wohl Schwierigkeiten, wenn wir jemand erklären müssten, was damit ganz genau gemeint ist.
Was also heißt das: Gnade? Ein erster Eindruck: Das Wort ist schillernd, ambivalent. Es gibt auch so etwas wie „dunkle Gnade“ (ein Buchtitel von Peter Strasser), und die ist uns im alltäglichen Sprachgebrauch vielleicht sogar geläufiger. Wir lassen mal Gnade vor Recht ergehen, sagen wir, und meinen damit einen Akt der Willkür und des Rechtsbruchs. Ein Gnadenakt ist eine Handlung, die das Recht zumindest für den Augenblick außer Kraft setzt. Der Gouverneur begnadigt den rechtskräftig verurteilten Todeskandidaten. Wer um Gnade fleht, ist in der Position des Schwächeren, Machtlosen, Rechtlosen. Ein Verhältnis, das auf Gnade beruht, ist asymmetrisch und paternalistisch. Es hat ein Gefälle. Wer Gnade walten lässt, sitzt am längeren Hebel. Deshalb ist das Wort „Gnade“ so ideologiegefährdet, so missbrauchsanfällig, gerade im kirchlichen Kontext. Man redet von Gnade und meint doch Macht.
Auf der anderen Seite ist dieses Wort eines der kostbarsten, die wir in unserer Sprache überhaupt zur Verfügung haben. Es bringt das Beste zum Ausdruck, was Menschen einander tun können. An die Stelle der Willkür tritt das Wohlwollen. Gnade, die andere, die helle, die menschenfreundliche Gnade, meint ein geschenkhaftes Wohlwollen, eine grundlose Zuwendung zum anderen. Es ist eine Haltung des erbarmenden Mitleids, der verzeihenden Güte. In ihrem Kern geht es um Barmherzigkeit, die nicht auf Erwiderung, Ausgleich und Lohn setzt, sondern die einfach nur das unbedingte Seinsollen des anderen im Blick hat. Deshalb ist für Menschen, die an Gott glauben, Gnade nicht einfach nur eine Handlung oder eine Tateigenschaft. Gnade ist vielmehr ein Synonym für diesen Gott selbst. Gott ist nicht nur gnädig. Gott ist Gnade. Und für Christinnen und Christen gilt: Gott ist Gnade gerade so, wie er sich uns in Jesus Christus zugewandt hat, als unbedingt für uns entschiedene Liebe. Gnade ist Gott in der Weise seiner Weltzuwendung in Jesus Christus. So ist das Wort Gnade eine Art Kurzformel, die das Gesamt unseres Glaubens auf einen einzigen Begriff bringen kann.
„Willkür und Wohlwollen“ (so der Untertitel von Strassers Buch). Schwere Kost, ich weiß. Aber was bedeutet das für uns, für uns heute, für unser Leben? Ich behaupte: alles. Denn Gnade ist die Zusage Gottes an uns, dass wir gewollt sind, vor allem unserem Tun und Lassen. Theologen sprechen gern vom Primat der Gnade, und sie meinen damit, dass Gott von Anfang an und beständig aufs Neue zu uns sagt: Du bist mein geliebtes Kind, dich hab ich lieb von ganzem Herzen. Ich will, dass du bist. Ich halte dich in meiner Hand, ich habe dich eingeschrieben in mein Herz. Ich gebe dir Halt und freien Raum. Gnade, das ist der Name Gottes, ausgerufen über aller Zeit: Ich bin der Ich-bin-doch-da-für-dich, spricht unser Gott. Das ist das Erste, das Wichtigste. Aus dieser Zusage heraus dürfen wir unser Leben gestalten. Das Ich-bin-doch-da Gottes nimmt uns unsere Sorgen und Nöte nicht einfach weg. Es macht uns auch nicht automatisch zu besseren Menschen. Aber es hilft uns, uns unseren Ängsten und Schwächen zu stellen, sie anzunehmen und zu bearbeiten, aber uns nicht von ihnen bestimmen zu lassen. Es hilft uns, eine Entscheidung zu treffen, wer oder was in unserem Leben das Sagen haben soll: die Angst oder die Freiheit der Kinder Gottes. Die Gnade Gottes garantiert kein Leben in Angstfreiheit. Aber sie ruft uns immer wieder zu, was auch Jesus seinen Jüngern im heutigen Evangelium zuspricht: „Steht auf, habt keine Angst!“
Gnade: nicht Willkür, sondern Wohlwollen, weil sie die liebende Gegenwart Gottes selbst in unserem Leben ist. Wenn wir das ernst nehmen, ist eben das der Ausweis unserer Identität als Christinnen und Christen: Kinder Gottes zu sein; Gottes heilschaffende Nähe in unserem Leben zum Leuchten zu bringen; uns durchlässig zu machen auf Jesus hin. Das griechische Wort für Gnade heißt charis. Das, was aus dieser charis in unserem Leben erwächst, das nennen wir Charisma. Das ist die Gnadengabe Gottes an uns, das ist unser Charisma als Christinnen und Christen: Aus der Freiheit der Kinder Gottes heraus Gott groß sein lassen zu dürfen in unserem Leben.
Dieses Charisma einer gottgeschenkten Identität befreit uns aus dem modernen Münchhausen-Mythos, uns selbst an unserem eigenen Schopf aus dem Sumpf der Durchschnittlichkeit heraus ziehen zu müssen. Jede und jeder ist einzigartig, von jedem und jeder hat Gott einen ganz eigenen Traum. Das ist, was zählt, nicht die Klicks auf Facebook und nicht die verzweifelten Versuche, wahlweise um jeden Preis ich selbst oder eben um jeden Preis ein anderer, eine andere als ich selbst sein zu wollen. Das ist die Freiheit der Kinder Gottes: mich befreit zu wissen aus dem Zirkel von Selbstanklage und Selbstrechtfertigung; mein Herz ganz auf Gott werfen zu dürfen und doch zu wissen, dass ich dabei bei mir selbt ankommen werde. Insofern, mein heutiger Fastenimpuls: Lasen Sie zu, dass Gottes Gnade bei Ihnen ankommen kann. Seien Sie doch mal gnädig zu sich selbst! Nicht im Sinne von „Fünfe grade sein lassen“ und auch nicht als saturierte Selbstgefälligkeit. Wohl aber im Sinne von: Üben Sie Wohlwollen gegenüber sich selber ein. Distanzieren Sie sich von Ihren Selbstverdächtigungen. Haben Sie Mut, auch die eigenen guten Absichten, das eigene Mühen zu sehen.
Dann aber, und das wäre der zweite Fastenimpuls: Üben Sie dieses Wohlwollen auch gegenüber den anderen, besonders gegenüber der Dumpfbacke von nebenan, die so unfasslich nervt… Nur – und damit höre ich dann auch wirklich mit den guten Ratschlägen für heute auf – nur achten Sie dabei stets auf den gefährlichen Doppelklang des Wortes Gnade. Achten Sie darauf, dass das Wohlwollen nicht in Willkür, dass Barmherzigkeit nicht in Paternalismus und Großherzigkeit nicht in Selbstgerechtigkeit überkippt. Um mit zwei ganz konkreten Beispielen zu enden: Die Zulassung von wiederverheiratet Geschiedenen zu den Sakramenten ist kein Akt der Barmherzigkeit. Sie haben ein Recht darauf. Und die Aufnahme von Geflüchteten ist keine Mildtätigkeit, die man auch lassen könnte. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit und eine Christenpflicht.
von Prof. Dr. Matthias Remenyi, Diakon