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GOTT HÄLT MIT UNS AUS
Hirtenwort zur Fastenzeit 2021
Dr. Heiner Koch, Erzbischof von Berlin
Liebe Schwestern und Brüder im Erzbistum Berlin, vielleicht waren die letzten elf Monate für viele von uns an einigen Punkten wie ein Gang durch die Wüste, von der heute am ersten Fastensonntag im Evangelium die Rede ist. Eine Frage, die mir in dieser Zeit der Corona-Pandemie immer wieder begegnet: Welche Folgen wird diese Krise haben? Wo soll das alles eigentlich hinführen:
- Viele Familien leben auf engem Wohnraum zusammen; manchmal wird es sehr schwer, fast unerträglich. Es gibt Spannungen, Streit und Verletzungen. Wohin soll das nur führen? Werden wir uns versöhnen können?
- Unsere Kinder müssen auf viele Erfahrungen in der Schule verzichten. Sie lernen nicht wie gewöhnlich. Wie wird sich dies auf ihr soziales Lernen und ihr soziales Verhalten auswirken? Wie werden sie aufholen, was sie an Lernlücken haben?
- Viele sorgen sich um die alten Menschen in ihren Familien, die oftmals nicht verstehen, dass sie nicht mehr besucht werden. Ihr ganzes Leben und ihre Psyche verändere sich dadurch. Wie soll das wieder heilen?
- Vielleicht hat sich durch die fehlenden Sozialkontakte ein unkontrollierter Umgang mit Nikotin und Alkohol, mit Essen und Trinken, mit Spielen und Online-Konsum eingeschlichen. Und Sie fragen sich: Wie soll ich davon wieder wegkommen?
- Selbstständige oder Beschäftigte im Handel leiden darunter, dass ihr Unternehmen schon so lange geschlossen ist. Die Kunden orientieren sich um und kaufen im Internet. Wie soll ich das Geschäft bloß wieder aufbauen?
- In unserer Gemeinde gibt es kaum noch Gemeinschaftserfahrungen. Unser Chor fällt auseinander. Wie sollen wir bloß wieder zueinander finden?
Die Fragen zeigen, dass viele Menschen mehrfach betroffen sind: Kinder in Schule und Familie, Erwachsene in Familie, Beruf und Gemeinde, alte Menschen in Familie und Gemeinde: Wie soll das alles nur weitergehen? Wohin soll all das führen? Ratlosigkeit, Erschöpfung und Ohnmacht spüre ich in mir selbst und bei vielen Menschen, denen ich begegne.
In den Zeugnissen der Geschichte des Glaubens in den beiden Testamenten der Heiligen Schrift erleben wir immer wieder Menschen, die Ratlosigkeit und Ohnmacht erfahren, weil auch sie nicht mehr weitersehen. Sie erkannten in ihrer Ratlosigkeit nicht mehr den Weg in die Zukunft: Abraham wusste nicht, wie er angesichts der unerfüllten Verheißung Gottes sein Leben weiterführen sollte (Gen 17f ). Mose sah in Anbetracht der Macht des Pharao keinen Weg für sein Volk in eine gute Zukunft (Ex 9-11). Elija war kraftlos und erschöpft, am Ende seiner Lebensmöglichkeiten (1 Kön 19, 3-8). Später wussten die Jünger auf dem Weg nach Emmaus nicht mehr weiter, weil ihre Hoffnung und der Grund ihrer Hoffnung, Christus, am Kreuz zerstört worden war (Lk 24, 13-32).
Nicht mehr weiterwissen, ratlos sein angesichts zusammengebrochener Pläne, Überlegungen, Perspektiven ist auch die Realität des Karsamstags. Für uns als Christinnen und Christen ist dieser Tag der Extremfall. Christus selbst ist in die tiefsten Abgründe hinabgestiegen, in die ein Mensch nur geraten kann. Der Karsamstag ist als Ausdruck dafür der Tag der Schmucklosigkeit und des Schweigens in der Liturgie. So ausführlich die Evangelien das Leiden Jesu bis zu seinem Tod und Begräbnis schildern, so schweigsam werden sie für die Zeit zwischen Grablegung und Auferstehung. Alle Wörter sind abgegriffen und können nicht helfen. Der Karsamstag ist der Tag des Nullpunkts, des vollständigen Verlassenseins. Hier verstummt sogar die Klage.
Über diesen Tag sagt das Glaubensbekenntnis, dass der Gekreuzigte „hinabgestiegen ist in das Reich des Todes“, in unsere Verlassenheit, in unser „nicht mehr weiterwissen“, in unsere Ohnmacht, in die Wüsten unseres Lebens. Diese Dunkelheiten unseres Lebens teilt Christus mit uns. Er hält mit uns aus. Er löst die Ohnmacht und die Dunkelheit nicht auf, aber er flieht auch nicht und lässt uns nicht allein. Manches „nicht mehr weiterwissen“ und viele Erschöpfungen auszuhalten, ist nicht leicht. Aber es ist oft eine große Hilfe, solche schweren Stunden zu ertragen im Wissen darum, dass Gott sie mit uns trägt, und in der Hoffnung, dass Menschen uns in dieser schweren Zeit begleiten, auch wenn nicht alles gleich geheilt und wieder hoffnungsvoll wird. Wie gut ist es, dass Gott und Menschen mit uns gehen und in diesem Miteinander traurige Gefühle und Empfindungen, Ärger, Erschöpfung, Angst und Trauer nicht einfach übertüncht werden. Wie segensreich ist es, dass Gott mit uns aushält, auch wenn wir gerade kein Land sehen, und wie gut ist es, dass Menschen dann an unserer Seite stehen, auf die wir uns gerade in solcher belasteten Zeit verlassen können, auf deren Beistand und deren Mitgehen, auf deren Treue und Verlässlichkeit wir gerade in solchen Zeiten bauen können.
Die Karsamstage unseres Lebens, die Wüstenzeiten auch in unserem persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben so auszuhalten ist die Voraussetzung, um wie die ratlosen Jünger auf dem Weg nach Emmaus den Ostermorgen als Wunder zu erleben. Den Ostermorgen gibt es nur nach dem Karsamstag.
Vielleicht ist die Haltung dieser Jünger, die zu ihrer ganzen Enttäuschung, Ratlosigkeit und Perspektivlosigkeit stehen, gerade in der Corona-Zeit auch der Weg für uns, die Gegenwart Christi an den Karsamstagen unseres Lebens auf dem Weg zum Ostermorgen zu erleben. Auf diesem Weg wünsche ich Ihnen für die Fastenzeit in der Corona-Pandemie tiefe Erfahrungen des Lebens und des Glaubens.
Dr. Heiner Koch
Erzbischof von Berlin