Guardini Predigtreihe | Prof. Dr. Georg Essen | 30. Oktober 2021

Texte: Mk 12, 28b – 34; Reformationstag


„Anfang“ meint gewöhnlich das Erste, das eine Reihe von Ereignissen eröffnet. Doch ist es uns mitten im Fluss der Zeit überhaupt möglich, einen Anfang zu setzen? Schlechthin anfangslos ist unser Beginnen offenkundig nicht, weil sich mit ihm unausweichlich die Frage nach seinen Voraussetzungen einstellen wird. Noch den Anfang müssen wir als die Wirkung einer Ursache und als das Nachher begreifen, dem ein Vorher vorangegangen ist. Es gibt sie nicht, die „Stunde Null“, mit der vermeintlich alles ganz neu und anders anfängt. Ist aller Anfang vergebens? Bereits der Blick in die eigene Lebensgeschichte macht uns schmerzlich darauf aufmerksam, wie schwer es vielfach ist, überhaupt einen neuen Anfang zu machen und damit ein Ende zu setzen. Es gibt Menschen, denen es nicht gelingt, sich aus den Banden der eigenen Herkunftsfamilie zu lösen oder aus dem Gefangensein in einem einschneidenden Ereignis zu befreien, um endlich anzufangen, selbstbestimmt zu leben. Stattdessen ist ihr Lebensgefühl dadurch bestimmt, dass sie in Erfahrungen und Schicksalen verstrickt sind, aus denen es kein Entrinnen zu geben scheint. Geschichte, die nicht vergehen will und deshalb das Anfangen verhindert. Ein schlechthinniges Anfangenkönnen bleibt uns Menschen verwehrt! Insofern macht gerade der, der es wagt, neu anzufangen, die manchmal bittere Erfahrung, dass es den Anfang nicht gibt ohne die Last der Vergangenheit. Wer möchte nicht darauf hoffen dürfen, auf einen Neuanfang zu setzen? Es sagt sich ja so einfach: Du musst Dein Leben ändern! Und statt es zu tun, simuliere ich das Anfangenwollen und stürze mich in unnütz sinnlose Aktivitäten: räume die Wohnung auf, fange an, Sport zu treiben, kleide mich neu ein, ziehe in eine neue Stadt, wechsle die Partnerschaft, tausche den Freundeskreis aus. Und dies, um dann die Erfahrung machen zu müssen, dass wir immer noch die Alten sind, die sich stets mitnehmen in das neue Leben. Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Wir sind in Geschichten verstrickt. Es scheint nicht allein in unserer Macht zu stehen, den Anfang wagen zu können. Lebt auch der Anfang von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann?

Der Philosoph Immanuel Kant sagt von der Freiheit, sie sei das Vermögen, eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen. Aber wie frei sind wir? Es ist ja nicht nur so, dass wir in Geschichten verstrickt und deshalb blockiert sind, den Anfang zu tun. Wer den Anfang wagt, muss darauf gefasst sein, dass etwas beginnt, was zuvor noch nicht gewesen ist. Wer den Anfang wagt, muss bereit sein, frei sein zu wollen und der Zukunft zugewandt. Es gilt, auf einen Weg uns zu begeben, den wir noch nicht überblicken. Angst beginnt sich einzunisten, die uns blockiert, auch nur den ersten Schritt ins Offene hinein zu gehen. Es fehlt die Fähigkeit, sich ohne Angst auf die widerspruchsvolle Wirklichkeit und noch ausweglos scheinende Situationen einlassen zu können. Wollen wir überhaupt frei sein? Oder scheuen wir die Freiheit, weil es riskant ist, auf sie zu setzen? Unter dem Gesetz der Angst klammern wir uns an das Vertraute auch dort noch, wo die Verhältnisse, in denen wir leben, uns nicht gut tun oder gar schaden. Die Hoffnung des Zutrauens ist uns abhanden gekommen. Der Schriftsteller Harry Mulisch hat diese Erfahrung in ein schreckliches Bild gekleidet: Es ist, als ob ein Soldat in finsterer Nacht auf einer Patrouille sich befindet. Plötzlich macht es unter seinem Fuß „Klick“, und er weiß, dass er auf eine Mine getreten ist. Er erstarrt im Wissen darum, dass es ihn in dem Augenblick zerreißt, sobald er sich bewegen sollte.

Das Risiko des Scheiterns ist der Preis der Freiheit. Ist dieser Preis zu hoch? Häufig sind wir Gefangene unserer Angst, verstrickt in uns selbst. Ist sie einmal zum Gesetz unseres Lebens geworden, wird es einsam um uns. Wir haben angefangen, uns unerreichbar zu machen für die Freundschaft und die Liebe selbst unserer Nächsten. Dabei wäre das Geheimnis des ersten Schritts ja, dass mir vom Anderen her die Möglichkeit des Anfangenkönnens eröffnet würde. Du dürftest sogar schwach dich zeigen, weil Du geliebt wirst und zwar vorbehaltlos. Du musst nur einstimmen in das Geschenk der Zuwendung, es kommt nur darauf an, das Bejahtsein durch den Anderen anzunehmen. Aber ist dies nicht das Schwerste überhaupt, weil dieses Einstimmen in das mir geschenkte Ja mit einschließt, es mit sich selbst aushalten zu wollen, sich selbst anzunehmen, zu sich selbst Ja zu sagen?

Dies ist das Unglück der Freiheit. Vielleicht ist unsere Freiheit ja wirklich absurd, wie Jean-Paul Sartre mutmaßt. Theoretisch entscheidbar ist diese Behauptung nicht. Ob sie das letzte Wort behält, können wir nur wissen, wenn wir uns entschließen, das Wagnis der Freiheit im Zutrauen auf das Offene einzugehen. Die Not unserer Existenz ist nicht, dass wir nicht frei sein können, sondern dass wir nicht frei sein wollen. Unsere Ohnmacht stößt uns auf die Erfahrung, dass es nicht allein in unserer Macht zu stehen scheint, unsere Freiheit zu wagen. Lebt auch die Freiheit von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann?

Hätte ich, als Katholik, Martin Luther richtig verstanden, wenn ich ihn so begreifen würde, dass er seine Botschaft von der Rechtfertigung durch Gottes Gnade allein in diese Grundsituation von uns Menschen hinein hat sprechen wollen? Dass wir uns nämlich so heillos in uns selbst verkrümmt haben, dass wir uns daraus nicht mehr alleine befreien können? Es ist nicht bereits die Erfahrung von Gebrochenheit und Verzweiflung, von Ohnmacht und Scheitern, die uns zu Sündern macht. Sondern zur Sünde wird sie erst dann, wenn wir in den Widerspruch einwilligen, weder uns selbst, noch den Nächsten und auch Gott zu lieben und zwar, wie es im heutigen Evangelium heißt, „mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft“. Was Luther und mit ihm die Tradition christlichen Glaubens „Gnade“ nennt, ist in ihrem Kern nichts anderes als die Sinnerfüllung unserer Freiheit, die wir durch nichts und niemals verdienen und, vor allem, die wir uns selbst nicht zusprechen, sondern stets nur empfangen können. Bedenken wir ernsthaft unsere Freiheit, dann wissen wir, dass sie sich aus ihren Verstrickungen nicht selbst befreien kann, obwohl niemand anders als sie selbst für ihren Zustand verantwortlich ist. Bedenken wir ernsthaft unsere Freiheit, dann wissen wir, dass sie befreit werden muss und zwar zu sich selbst. Die Sehnsucht der Freiheit ist, dass diese Befreiung ihr vorbehaltlos, unwiderruflich und unbedingt zugesagt werde. Als unverdientes und unverdienbares Geschenk, als Zusage einer Freiheit, die mich unbedingt anerkennt – als ein kategorischer Indikativ: Du sollst sein!

Aber warum Gott? Luther wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, diese Frage ernsthaft zu stellen. Wir aber müssen sie aufwerfen und sei es, weil das säkulare Daseinsgefühl längst zum Normalfall geworden ist, aber auch, weil wir doch denen eine Antwort schuldig sind, die Suchende und Fragende sind. Das Gebot, „deinen Nächsten zu lieben wie dich selbst“, das im heutigen Evangelium verkündigt wird, leuchtet, ob wir gläubig sind oder nicht, unmittelbar ein und gibt auch eine Antwort auf die Frage, ob die menschliche Freiheit von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann. Dass ich unbedingt anerkannt werde von anderer Freiheit, das ist das Erfüllende meiner eigenen Freiheit. Und diese beglückende Erfüllung, die ein Mensch mir frei schenkt, spielt mir die Möglichkeit zu, mich aus den Verstrickungen und Verkrümmungen zu befreien, meine Angst, meine Verzweiflung zu überwinden. Und erst in der Gemeinschaft mit anderer Freiheit finde ich den angemessenen Halt und die tragende Zuversicht, es mit mir selbst auszuhalten, mich selbst zu bejahen.

Noch einmal: Aber warum Gott? Zwingend ist der Schluss von der Sehnsucht der Freiheit auf Gott keineswegs. Auch ist Gott ganz gewiss nicht das Alibi unseres Nichtstuns, als ob es nicht unvertretbar auf uns ankommt, den Nächsten zu lieben wie uns selbst. Aber wie weit reicht die Kraft von uns Menschen, den Anderen, die Andere unbedingt anzuerkennen und ihr jenen Sinn zuzusprechen, der das Glück ihres Lebens wäre? Selbst wenn wir wollten und zwar selbstlos, sind wir alle, alle ohne jede Ausnahme, in Geschichten verstrickt, in uns selbst verkrümmt. Erbsünde hieß diese Gefangenschaft früher und bezeichnete die Unerbittlichkeit, mit der wir alle, alle ohne jede Ausnahme, in die Geschichte der Menschen und ihrer Schuld verstrickt sind, beherrscht von einer Macht, die uns in uns selbst gefangen hält und die uns allzuhäufig hindert, unbedingt gnädig, zuvorkommend gütig und selbstlos bejahend zu sein. So bleiben wir beim bloß Möglichen, Wünschenswerten, Geforderten stehen, weil die Fähigkeit nicht in unserer Macht steht, anfangen zu können und immer neu anfangen zu können. Warum eigentlich fällt es uns so schwer, ohne Rückhalt zu lieben und zwar so, wie wir selbst geliebt werden möchten? Warum hört die Kraft unserer Zuwendung gerade dann auf, wenn der andere, die andere sie brauchte? Empfangen und Schenken sind vielfach gefährdet, sie können an Überforderung ebenso zugrunde gehen wie an dem fehlenden Mut. Wir sind keine Anfänger.

Aber, noch einmal gefragt, warum Gott? „Gott aber“, so heißt es bei dem Philosophen Schelling, „was man wirklich Gott nennt […], ist nur der, welcher Urheber seyn, der etwas anfangen kann.“ Darf die Hoffnung gewagt werden, auf einen solchen Gott zu setzen? Ist der Mensch ansprechbar gar für einen Gott, der das ist, was wir nicht sind: ein wahrhafter Anfänger? Gott ist der, der für unser Anfangenkönnen den unerschöpflichen Anfang gemacht hat. Was aber ist dann Glaube? Sich von Gott finden zu lassen und so das Vertrauen zu schöpfen, frei sein zu dürfen. Rechtfertigung durch Gnade allein, das heißt: Gott ist uns zuvorgekommen, begonnen hat er. Aber, fügt der Katholik hinzu, er wartet auf uns: ohne das Zutun unserer Freiheit kommt die von Gott geschenkte Gnade nicht an ihr Ziel. Ja, weil Gott die menschliche Freiheit des Menschen achtet, die er für sich gewinnen will, wartet er auf unser freies Ja und hofft, dass wir in Freiheit einstimmen in den Anfang, den er eröffnet hat.

Literatur, denen Anregungen, teilweise auch Paraphrasierungen und Zitate entnommen wurde:

G. Essen, Die Autorität der Freiheit. Katholische Ortsbestimmungen im Verhältnis von christlichem und neuzeitlichem Freiheitsverständnis: ÖR 62 (2013) 5-23; ders., „Da ist keiner, der nicht sündigt, nicht einer…“. Analyse und Kritik gegenwärtiger Erbsündentheologien und ihr Beitrag für das seit Paulus gestellte Problem: Th. Pröpper, Theologische Anthropologie 2, Freiburg u. a. 2011, 1092-1156; S. Kierkegaard, Der Begriff Angst: ders., Der Begriff Angst. Vorworte (GW, 11./12. Abt.), Gütersloh 31991; ders., Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin (GW, 24./25. Abt.), Gütersloh 31985; Th. Pröpper, Gottes Freundschaft suchen. Predigten, geistliche Gedanken und Gebete. Mit Geleittexten hg. v. K. Müller, Regensburg 2016; ders., Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 31991; Chr. Schubert, mere passive? Inszenierung eines Gesprächs über Gnade und Freiheit zwischen Eberhard Jüngel und Thomas Pröpper (ratio fidei, 55), Regensburg 2014.