Die Bibel weist mir den Weg zum Leben (Joh 11,1-45)

Liebe Schwestern und Brüder,

wer schon einmal auf einer der beiden großen deutschen Buchmessen war, kennt das: Menschenmassen schieben sich an kleinen Ständen in großen Hallen vorbei. Und vor allem: unüberschaubar viele Aussteller und Bücher. In Leipzig waren es zuletzt allein rund 2400 Aussteller, in Frankfurt waren es sogar 7100 Aussteller. Für mich ist so ein Gang über eine Buchmesse eines der besten Sinnbilder für unsere moderne Gegenwart und ihr Sinnangebot. Denn der Stand der deutschen Bibelgesellschaft und des Katholischen Bibelwerkes sind zwar natürlich da, aber man ist schon versucht zu fragen: Was ist das bei so vielen anderen Anbietern? Geht da das Wort der Bibel nicht unter?

Anders als noch zu Luthers Zeiten sind Druckerzeugnisse keine Sensation mehr. Es gibt eher zu viele davon. So lässt sich denn das berühmte Wort Luthers „Wie finde ich einen gnädigen Gott?“ leicht modern umwandeln in die Frage: Wie finde ich überhaupt ein gnädiges Wort? Also ein Wort, das meinem Leben Sinn und Richtung gibt. Antworten für heute liefert ein Blick auf das Ringen der christlichen Konfessionen um die Heilige Schrift. Das lässt sich selber wie ein Rundgang über eine imaginäre historische Buchmesse beschreiben. Ich lade sie zu so einem kleinen Spaziergang ein.

Der erste Stand: die Reformation! Hinter der Theke steht Martin Luther. Im Hintergrund läuft leise über CD die Musik eines Posaunenchors. Das Stück heißt: Eine feste Burg ist unser Gott. Luthers Antwort auf die Frage nach dem wegweisenden Wort war: Sola scriptura. Alleine aus dem Text der Heiligen Schrift, der Bibel, gewinne ich die Worte, die mir den Weg zum Leben bahnen. Das war ja auch seine ganz persönliche Erfahrung. Den wichtigsten Moment von Befreiung und Erlösung seines Lebens hatte ihm privates Bibelstudium gebracht. Das hatte für Luther durchaus eine Spitze gegen die Alt-Gläubigen: Ein gnadenvolles Wort gibt es ohne die Bevormundung durch kirchliche Autoritäten.

Diese Erfahrung Luthers lieferte einen wesentlichen Impuls für die Geschichte der Wertschätzung des Gewissens.
Eine Kehrseite war dabei: Der Schritt zu biblischem Fundamentalismus, d. h. einer unhistorischen Absolut-Setzung einzelner Wörter und Lehren der Bibel war nur kurz. Das Panorama reicht hier von den Münsteraner Wiedertäufern des 16. Jahrhunderts bis zu evangelikalen Gruppierungen unserer Tage in den Vereinigten Staaten. Die haben übrigens auch ihre Stände hier auf der Buchmesse, aber da läuft vor allem schrille Musik. Insofern sparen wir uns den Gang dorthin. Luthers Antwort auf die Frage „Wo finde ich ein gnädiges Wort?“: In meinem persönlichen Gewissen.

Schauen wir uns weiter um, der zweite Stand: die römisch-katholische Kirche. Ignatius von Loyola oder Karl Borromäus arbeiten hier im Schichtdienst. An der Rückwand in der Ecke lehnt das Banner IHS. Ein Weihrauchfass qualmt friedlich vor sich hin. Die Antwort der Alt-Gläubigen auf die Frage nach der Wegweisung war damals: Autorität und Tradition.

Neben der Bibel gibt es noch Traditionen in der Kirche. Und die Amtsträger haben die Vollmacht festzustellen, welche das sind. Im Zweifelsfall legen sie auch fest, welche Schriftauslegung wahr oder falsch ist. Ein gnadenvolles Wort gewinne ich nur, wenn ich Autorität und Tradition respektiere. Auch das war ja eine Erfahrung, die vielen Menschen schon gemacht hatten: Beheimatung, aber auch die Erfahrung von Trost und Befreiung kamen durch Ritual, Struktur und Autorität.

Im Ringen mit den Reformatoren schärfte die katholische Kirche ihr Profil und entwickelte weltumspannend ein hohes Wiedererkennungspotenzial. Und vor allem hat sie ihren Traditionsbegriff geklärt. Tradition ist eher das Erbe, was aus der Schatztruhe herausgeholt werden muss, um es lebendig zu halten. Die katholische Kehrseite liegt bei allen mit der Angst, die Schatztruhe zu öffnen: Traditionalisten und Ritualisten. Lieber klappen die den Deckel zu und schließen dreimal ab. Hier reicht das Spektrum von den Begründern des Heiligen römischen Offiziums bis zu den Piusbrüdern unserer Tage.

Logischerweise sind die auch auf der Messe vertreten. Aber hier riecht es doch etwas zu streng entweder nach Moder oder etwas brenzelig – wegen der Scheiterhaufen. Wir überschlagen diese Stände. Die römisch-katholische Antwort auf die Frage „Wie finde ich ein gnädiges Wort?“: indem ich gemeinsam mit der kirchlichen Autorität die lebendigen Traditionen wertschätze.

Liebe Schwestern und Brüder, wir sind mit unserem Rundgang noch nicht fertig: Da gibt es noch einen interessanten Stand auf dieser Buchmesse. Hinter dem Tresen steht ein Ehepaar unserer Tage, das eine so genannte konfessionsverbindende Ehe führt. Im Hintergrund sehe ich eine Abbildung mit der Schlüsselszene des heutigen Evangeliums. Die Überschrift ist ein Zitat: „Lazarus komm heraus!“ Denn es gibt mittlerweile auch eine gemeinsame, verbindende Antwort aus der Ökumene, das Zauberwort heißt hier: Erfahrung des lebendigen Gottes.

Seit Martin Luther haben die Konfessionen darum gerungen, wer denn die Bibel am besten auslegen kann. Dieser Wettstreit hat dazu geführt, dass wir sie heute mit einer Kenntnis und einem Wissen lesen können wie nie zuvor.
Wir können sagen: Die Bibel ist Gottes Wort in Menschenwort. Sie ist zwar unter dem Einfluss von Gottes Geist geschrieben, aber nicht Wort für Wort vom Himmel gefallen. Sie ist dabei vor allem eine Überlieferung der Erfahrung mit Gott.

Die biblischen Autoren haben Erfahrungen mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Gott des Mose aufgeschrieben. Sie waren davon überzeugt, dass genau dieser Gott der Vater ist, zu dem Jesus von Nazareth gebetet hat und in dessen Hände er am Kreuz seinen Geist übergeben hat. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Gott ihn aus dem Tod gerufen hat und dass er dann die Gemeinschaft seiner Jüngerinnen und Jünger ins Leben rief. Sie haben die Erfahrung aufgeschrieben, dass Gott selber in seinem Geist für diese Gemeinschaft sorgt und sie Formen finden lässt, die ihr Bestand verleihen.

Wie finde ich also ein gnädiges Wort? Indem ich mich auf die Erfahrung mit Gott einlasse. Was aber ist das Kriterium dafür, dass es Gott ist, den ich erfahre: Es ist die Erfahrung des Lazarus! Es ist die Erfahrung des Gottes, der mich und seine Gemeinschaft ins Leben ruft. Orientiere ich mich als einzelner, orientiert sich die Kirche als Ganze daran, wird sie sich nicht verlaufen.

Liebe Schwestern und Brüder, wir beenden unseren Gang über den Jahrmarkt der Sinnangebote. Wir haben in unsere Einkaufstasche die Wertschätzung gegenüber dem Gewissen eingepackt, aber auch das Wissen um lebendige Tradition und die Einladung Erfahrungen mit Gott zu machen. Kurz bevor wir aus der Halle gehen, um uns mit Brot und Wein zu stärken, gerät uns noch ein Zettel in die Hand. Es steht ein altes Gebet darauf:

Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte,
ein Licht für meine Pfade.
Ich tat einen Schwur und halte ihn aufrecht:
Ich will achten auf deine gerechten Entscheide.
Ganz tief bin ich gebeugt.
HERR, belebe mich nach deinem Wort!
Nimm das Lobopfer meines Mundes gnädig an!
HERR, lehre mich deine Entscheide!
Mein Leben ist ständig in Gefahr,
doch deine Weisung habe ich nicht vergessen.
Frevler legten mir eine Schlinge;
Ich aber irrte nicht ab von deinen Befehlen.
Deine Zeugnisse hab ich zum Erbe empfangen auf ewig,
ja sie sind meines Herzens Frohlocken.
Ich machte mein Herz bereit, deine Gesetze zu erfüllen
auf ewig, bis ans Ende.

Psalm 119, 105 – 112 (Münsterschwarzacher Psalter)

von P. Damian Bieger OFM