1. Sonntag der Fastenzeit – „Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesus Christ, dass uns hinfort nicht schade des bösen Feindes List“ (GL 436,1)

Mit einem echten Herzens-Seufzer beginnt das ursprünglich evangelische Lied, über dessen einzelne Strophen wir in dieser Österlichen Bußzeit bei unseren Fastenpredigten gemeinsam nachdenken wollen.

1627 entstand der Liedtext in einer dramatischen Situation. Josua Stegmann, Superintendent und Theologie-Professor in der Stadt Rinteln im Weserbergland (Niedersachsen) schreibt sie in sein christliches Gebetbüchlein. Seit 7 Jahren tobt der 30-jährige Krieg, als 1625 im Land auch noch die Pest ausbricht, die einem Drittel der Bevölkerung den unausweichlichen Tod bringt. Wenn die Leute damals Gott um Gnade anflehten, dann deshalb, weil sie um ihr Leben fürchteten.

Der Corona-Virus, der sich nicht nur in China, sondern mittlerweile auf allen Kontinenten ausbreitet, ist zwar nicht so gefährlich wie die Pest damals. Trotzdem sind viele zu Recht beunruhigt, weil er mancherorts schon einige Todesopfer forderte, medizinisch noch nicht so recht erforscht ist und es noch keine Therapie gibt.

Wie in einer Beschwörungsformel fleht der betende Dichter in Schlüsselwörtern, worum er seinen Herrgott von Herzen bittet und anfleht. Die zweite Satzhälfte liefert jeweils die Begründung dazu oder fügt eine weitere Bitte an.

Die gewählten Worte sind schlicht und wenig originell, aber eindeutig biblisch geprägt. Unüberhörbar erinnert uns der erste Stoßseufzer an die Bitte der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus: „Bleib bei uns, Herr, denn es will Abend werden!“ Der verwendete Topos von des bösen Feindes List lässt uns an die bekannte Paradieses-Erzählung denken und an die Versuchungsgeschichte Jesu, die wir heute im Evangelium gehört haben.

„Gnade – womit habe ich das verdient?“ Jahrelang hatte der Reformator Martin Luther darum gerungen, wie er einen gnädigen Gott finden kann. Die Gnade Gottes hat er zum Schlüsselbegriff seiner theologischen Verkündigung gemacht: sola gratia = allein aus Gnade.

Durch zu häufigen Gebrauch ist das Wort Gnade scheinbar aus der Mode gekommen und für viele heute fast nur mehr eine leere Worthülse. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, was Gnade bedeutet.

Gnade ist eine Wohltat, auf die kein Anspruch besteht. Das gilt im Rechtssystem ebenso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen als Wohlwollen und Geschenk.

„Gnade dir Gott!“ klingt wie eine Drohung für den, der etwas Böses angestellt hat. Da lässt einer „Gnade vor Recht ergehen“ – so ein geflügeltes Wort – wenn er nachsichtig ist und auf Strafe großzügig verzichtet.

In einem theologischen Wörterbuch habe ich folgende Definition gefunden:

„Gnade ist die unverdiente, unerwartete und unbegreifliche Zuwendung der Liebe Gottes zum Menschen, die diesen zum Heil in der Lebensgemeinschaft mit Gott führt, indem sie den Widerstand gegen Gott als Gefangenschaft des Menschen bei sich selber aufdeckt und befreiend überwindet“ (Otto Hermann Pesch). Gnade wird als therapeutischer Akt Gottes verstanden. Daher beten wir immer wieder voller Vertrauen: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“

Unser Erzbischof Dr. Heiner Koch hat zum 1. Fastensonntag ein Hirtenwort geschrieben, das in den kommenden Tagen kostenlos zum Mitnehmen in unseren Kirchen ausliegen wird und in gedruckter Form in voller Länge nachzulesen ist. Er beschreibt darin die Maßlosigkeit des Menschen in seinem Streben nach Karriere, Anerkennung, Konsumsucht und im Umgang mit der Schöpfung.

„Weniger ist mehr“ hat er seinen Brief an uns überschrieben, den er gnädiger Weise sehr kurz gefasst hat, so dass er sich in meiner Predigt gut einbauen lässt:

Jedem Menschen steht nur eine begrenzte Zeit mit begrenzten Möglichkeiten zur Verfügung, sein Leben zu verwirklichen. (…) Wer unentschieden leben und alles ‚mitnehmen‘ und nichts verpassen will, der wird schnell erfahren, wie sehr er getrieben wird von anderen Menschen oder von gesellschaftlichen Strömungen. Bewusst in den eigenen Entscheidungen Maß zu nehmen und zu halten, ist die Kunst des Lebens. Dies bedeutet Konzentration auf das, was mir wichtig und bedeutend ist. Weniger ist dabei mehr. Wir sollten Maß halten mit unserer begrenzten, uns anvertrauten Zeit und mit unseren Begabungen und Kräften – dann haben wir mehr davon.

Im Evangelium des ersten Fastensonntags begegnen wir Jesus, der Maßstäbe setzt in seinen Entscheidungen. In der Versuchungsgeschichte lässt er sich nicht vom Satan verführen, maßlos zu leben. Der Teufel zeigt ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagt zu ihm: „Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“

Für Christus ist und bleibt aber Gott und niemand sonst das Maß aller Dinge. Christus widersetzt sich dem maßlosen Angebot des Versuchers, denn er weiß sein Leben von Gott her erfüllt und nicht vom eigenen Reichtum, nicht von Ansehen oder Macht.

Wer würde Widerstand leisten, wenn ihm die ganze Welt zu Füßen gelegt würde? Wer würde widerstehen, wenn ihm versprochen würde, er könne alles verändern, ja selbst Steine in Brot verwandeln? Wer möchte nicht durch das Leben kommen ohne auf Widerstände zu stoßen, die uns auf das Maß des Menschenmöglichen reduzieren? Wer würde wie Jesus widerstehen, wenn ihm versprochen würde, in dieser Welt ganz groß herauszukommen und von allen bewundert zu werden?

Jesus genügt es, seinen Gott und Vater hinter sich, über sich und in sich zu wissen. Wer sich von Gott umgeben glaubt und in der Gemeinschaft mit ihm lebt, der braucht sich nicht mit dem Mittelmäßigen dieser Welt zufrieden zu geben, das unserem Leben letztlich keine Erfüllung zu geben vermag. So lautet die Botschaft Jesu in der Wüste.

Als Christen sind wir überzeugt, dass Gottes Liebe (und Gnade) jedes menschliche Maß übersteigt. Unser Leben ist im wörtlichen Sinn über die Maßen von Gott gefüllt, getragen und beschenkt. Deshalb sollten wir uns auch verabschieden können von so vielen Verführungen, die uns nicht die Erfüllung des Lebens schenken können.

Maßlos sein erzeugt auch Ungerechtigkeit anderen Menschen gegenüber. Sie können schnell zu unserem Gebrauchsgegenstand werden, den wir für uns ausnutzen. Wer maßvoll lebt, gibt Acht auf den anderen, achtet in allen Lebensvollzügen seine eigenen Grenzen und die seines Mitmenschen. Er setzt sich nicht als das Maß für den anderen Menschen. Wer maßvoll lebt, nimmt Maß an Gott. Er nimmt das Kreuz als Maßstab für sein Leben an wie Christus, der mit seiner Auferstehung alle Maßstäbe sprengte.

Maßvoll mit einem bewussten Maßstab zu leben hilft uns – das wissen wir auch aus unserer Lebenserfahrung – ausgeglichen, gesund und kraftvoll zu leben zwischen vielerlei Polen unseres Lebens, zwischen Bewegung und Ruhe, zwischen In-Gemeinschaft-Sein und in der oft notwendigen Ruhe des Alleinseins, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Genuss und Askese. Wir brauchen das Leben und den Ausgleich zwischen diesen und anderen Spannungen des Lebens.

„Halte Maß in allen Dingen!“ heißt es im alttestamentlichen Buch Jesus Sirach (Sir 33, 30). Das gilt für den Einzelnen wie auch für unser gesellschaftliches Miteinander, damit unser Leben nicht in Mittelmäßigkeit oder Maßlosigkeit verrinnt.

Soweit das Hirtenwort unseres Bischofs. Lassen Sie mich mit kleinen Hinweisen zum Thema „Gnade“ schließen:

„Wer von Gottes Gnade getragen wird, reist mit leichtem Gepäck“, wusste schon der Mystiker Thomas von Kempen in seinem Werk „Die Nachfolge Christi“.

Der evangelische Theologe Albrecht Goes, der während des 1. Weltkriegs bei seiner Großmutter in Berlin Steglitz aufwuchs, ermutigt uns: „Dass du Christ bist, ist Gnade; vergiss das nicht in deinem Leben!“ Denn vor Gott sind wir nie Macher, sondern immer Beschenkte.

In der Gnade bekommt ein Mensch etwas geschenkt, was er selbst nicht machen und auch nicht kaufen kann. Er hat es nicht verdient. Es ist umsonst, gratis.

„Du bist voll der Gnade“, sagt der Engel zu Maria, „der Herr ist mit dir!“ Das heißt: Du bist wertvoll. Gott hat Freude an dir. Mehr noch: Du lebst aus der Gegenwart Gottes. In deinem Leben kommt Gott vor. So bescheiden dein Alltag auch ist, in ihm glänzt etwas vom Geheimnis Gottes: Das gilt zunächst für Maria. Und das gilt für jede und jeden von uns. Amen.

Maximilian Wagner OFM

Es gilt das gesprochene Wort.