Folgende Grußworte richtete Provinzialminister Cornelius Bohl anlässlich der Verabschiedung der Franziskaner von Berlin-St. Ludwig an die Gemeinde:

Sehr geehrter Herr Erzbischof, liebe Schwestern, liebe Brüder,

vor Jahren schon hat mir einmal ein Freund von seiner ersten Fahrstunde erzählt. Beim Abbiegen in eine kleine Seitenstraße, wo rechts und links Autos parkten, kam ihm plötzlich ein Fahrzeug entgegen. Er hatte das Gefühl, da nie durchzukommen, die Fahrbahn schien viel zu eng und er fürchtete, einen parkenden Wagen zu schrammen. Natürlich war genug Platz, ihm fehlte einfach noch das Gefühl für sein Auto. Der Fahrlehrer hat ihm damals gesagt: „Keine Angst, da kommen Sie gut durch. Aber schauen Sie dahin, wohin Sie wollen! Wenn Sie auf die parkenden Autos am Rand schauen, schrammen Sie am Ende wirklich einen Wagen. Also schauen Sie klar nach vorne, dann klappt es!“ Und natürlich hat es geklappt. Im entschiedenen Blick nach vorne ging alles gut.

Diese Geschichte kommt mir gerade heute in den Sinn. Wir Franziskaner verabschieden uns aus St. Ludwig. Abschiede sind selten schön. Und dieser Abschied ist es sicherlich ganz und gar nicht. Auch nicht für uns Brüder. Abschiede haben es an sich, dass sie den Blick nach hinten lenken, in die Vergangenheit. Wir blicken zurück auf das, was war und nun aufhört. Das stimmt normalerweise traurig, es kann lähmen und macht vielleicht sogar aggressiv. Wie hatte der Fahrlehrer gesagt? „Schauen Sie dahin, wohin Sie wollen!“ Ich weiß aus eigener Erfahrung: Wenn ich nur auf die Vergangenheit blicke, bleibe ich leicht in der Vergangenheit hängen. Wenn ich nach vorne will, muss ich auch nach vorne schauen. Das gilt nicht nur für die erste Fahrstunde.

Wir alle erleben, in welch riesigen Umbrüchen und Veränderungen die Kirche in unserem Land steht. Allein wir Franziskaner in Deutschland haben uns dieses Jahr von vier Orten verabschiedet, die uns sehr wichtig und wertvoll und wo wir z.T. seit Jahrhunderten präsent waren: Neviges, Wiedenbrück, Halberstadt und heute nun St. Ludwig in Berlin-Wilmersdorf. Und wir werden weitere Niederlassungen schließen müssen, leider. Uns fehlen einfach die Brüder, die künftig all das weiterführen, was die Generationen vor uns aufgebaut haben. Ganz sicher könnte jeder von uns erzählen, wie er solche Umbrüche und Abbrüche selbst erlebt, in der Gesellschaft gerade hier in der Hauptstadt, in der Erzdiözese, vielleicht in der eigenen Familie. Aber ich will hier nicht lamentieren. Es ist, wie es ist. Und gerade deswegen gilt: Wir sollten dorthin schauen, wohin wir wollen. Der Blick in die Vergangenheit, mag sie uns im Rückspiegel auch noch so golden erscheinen, eröffnet keine Zukunft. Wer nach vorne will, muss auch nach vorne schauen.

Nach vorne schauen! Ich freue mich, dass es in St. Ludwig so viele Frauen und Männer und junge Menschen gibt, die sich hier gerne engagieren und die Gemeinde lebendig erhalten, auch in Zukunft – im Pfarrgemeinderat und im Kirchenvorstand, in der Mitgestaltung der Liturgie, im Chor, in der „Singflut“ und der Gregorianik-Schola, im Caritas-Arbeitskreis, im Weltladen und in der Flüchtlingshilfe, im Jugendcafé oder der Theatergruppe. Ich freue mich, dass in den KITAS, in der Schule, im Schulhort, bei den Ministranten und den Pfadfindern so viele Kinder und Jugendliche positive Erfahrungen mit Kirche machen. Das geht auch heute! Und das geht auch morgen! Ich freue mich, dass dieses Gotteshaus mitten in Berlin so viele Menschen auch von weiter her einlädt, hier Sonntag für Sonntag Eucharistie zu feiern und Gemeinschaft im Glauben zu erfahren.

Und auch wenn wir Brüder heute gehen – ich freue mich mit Ihrer Gemeinde und danke Ihnen, sehr geehrter Herr Erzbischof, dass hier schon übermorgen, kaum dass der letzte Bruder von uns die Tür hinter sich geschlossen hat, ein neuer Pfarrer und ein neues Pastoralteam starten. Das ist in der heutigen Situation aus meiner Sicht ein halbes Wunder, zu dem ich Ihre Gemeinde nur beglückwünschen kann.

Was aber das Wichtigste ist bei diesem Blick nach vorne: Wenn wir wirklich Christen sind und es ehrlich meinen mit unserem Glauben, dann dürfen wir doch fest davon überzeugt sein, dass Christus mit uns in die Zukunft geht! Mit dieser Gemeinde, mit unserer Ordensgemeinschaft, mit der Kirche in unserem Land und gerade auch hier in Berlin, mit jedem ganz persönlich! Ich weiß nicht, wie unsere Ordensprovinz in 20 Jahren aussehen wird. Ich weiß auch nicht, wie St. Ludwig und der künftige pastorale Raum in 20 Jahren aussehen. Aber eines weiß ich: Es wird auch dann noch Frauen und Männer geben, die gerne ihre Taufe und ihren Glauben leben, weil sie erfahren: Christus geht mit uns! Nach vorne schauen: Eine Gemeinde lebt hoffentlich ja nicht allein vom Pater X oder vom Pfarrer Y oder von der Gemeindereferentin Z, sondern von vielen Frauen und Männern, die aus der Beziehung zu Christus heraus versuchen, das Evangelium zu bezeugen, die Verantwortung übernehmen und Kirche gestalten. Im Evangelium heute hieß es, dass die Jünger „hinter Jesus hergehen“. Wir gehen hinter Jesus her. Und das heißt doch: Er geht voraus. Er macht Zukunft auf. „Schauen Sie nach vorne, dann kommen Sie gut durch!“, hatte der Fahrlehrer gesagt.

Dürfen wir heute also gar nicht zurückschauen? Doch, zu einem Abschied gehört der Blick zurück dazu, das geht gar nicht anders. Aber nicht als lähmende Nostalgie, sondern als dankbare Erinnerung. Ich denke dankbar an die vielen Brüder, die hier seit 1986 gelebt und gearbeitet und in dieser Gemeinde und diesem Viertel etwas von ihrem Leben und von sich selbst investiert haben. St. Ludwig war ein guter Ort auch für uns, an dem z.B. auch junge Brüder ihre ersten pastoralen Erfahrungen machen konnten. Natürlich, wir Franziskaner haben unsere Begrenzungen und Macken, wie alle Menschen, und bleiben oft hinter unserem eigenen Anspruch und dem Anspruch des Evangeliums zurück. Und dennoch bin ich dankbar, dass wir für gut drei Jahrzehnte St. Ludwig franziskanisch prägen konnten. Ich bin dankbar für die vielen, vielen Menschen, die hier unser Leben geteilt, unsere Arbeit auf vielfältige Weise unterstützt und mit uns eine lebendige Gemeinde gestaltet haben. Ich bin dankbar für alle Unterstützung und Hilfe, die wir auch von Ihnen, Herr Erzbischof, und von der Erzdiözese erhalten haben. Gut drei Jahrzehnte haben unsere Brüder hier hoffentlich guten Samen ausgesät. Manches davon ist aufgegangen. Manches wird auch weiterblühen und auch künftig Frucht bringen.

Wer sich erinnert, schaut zurück. Wenn dies in Dankbarkeit geschieht, geht aber der Blick dabei wie von selbst nach vorne und macht Mut und Lust auf Zukunft. Nicht, weil alles so einfach wäre. Sondern weil Christus vorausgeht. „Wenn Sie nach vorne wollen, dann schauen Sie auch nach vorne!“, hatte der Fahrlehrer gesagt. Ich wünsche Ihrer Gemeinde, aber auch unserer Bruderschaft den Mut, zu diesem entschiedenen Blick nach vorne – und natürlich Gottes Segen!

Der Artikel erschien am 30. August 2020 auf >> franziskaner.net.