Guardini-Predigtreihe | Sr. Beate Glania | 24. Oktober 2020

1 Kön 19, 3-8 – Elija unterm Ginsterstrauch
Mt 22, 34-40 – Die Frage nach dem wichtigsten Gebot


Die Tage werden kürzer, die Blätter färben sich und zeigen klar an, dass der Herbst da ist. Manch einer von uns hier fürchtet sich vielleicht vor der dunkleren Jahreszeit, vor den eigenen Stimmungen und dunklen Gedanken, vor der Schwermut des Gemüts. Dazu kommt noch die Pandemie in diesem Herbst.

Und ich darf in diesem Herbst hier eine „Guardini-Predigt“ halten. Das freut mich als Missionsärztliche Schwester und Krankenhausseelsorgerin mit dem Schwerpunkt „Psychiatrie“. Immer wieder begegne ich der verwundeten Seite der Menschen. Und Romano Guardini ist sozusagen ein geistlicher Kundschafter der Schwermut und ein wahrlich Eingeweihter in diese Herbstzeit des Gemüts.

Er schreibt in seinem Essay „Vom Sinn der Schwermut“ von eigenen Erfahrungen mit innerer Dunkelheit und Depression bis hin zur Todessehnsucht. Sehr ehrlich schaut er auf diese ihm unliebsamen Gefühle. Er versucht, sie in sein Leben zu integrieren und ihnen einen Sinn abzuringen. – Berühmt geworden ist der Anfang dieses Büchleins:

„Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als dass wir sie den Psychiatern überlassen dürften.“ Guardini sucht tief und geht im wahrsten Sinne des Wortes der Schwermut auf den Grund. Er nähert sich ihr mit der Frage nach Sinn und dem verborgenen Gott. Seine Redlichkeit, das tiefe Erforschen seiner eigenen Schwermut und sein Zugehen auf dieses ihn schreckende Gefühl berühren mich beim Lesen dieses kleinen Werks.

Dabei fällt auf: Guardini begegnet seiner eigenen Dunkelheit mit Respekt und Ehrfurcht, als würde sie ihm helfen, Neues zu finden. Denn der Schwermut ist es eigen, in nichts hier auf der Erde Erfüllung finden zu können. So verstärkt sie für Guardini die Sehnsucht nach dem Absoluten. Für ihn gehört die Dunkelheit zum Licht. Und im Licht dieser Dunkelheit lässt sich das Leben innerlicher, sehnsüchtiger und intensiver erfahren. Guardini schreibt zur Not der Schwermut: „In ihrem letzten Wesen ist sie Sehnsucht nach Liebe. Sie ist Anzeichen, dass es das Absolute gibt.  (Sie) ist Ausdruck dafür (…), dass wir Wand an Wand mit Gott leben. (…) Die Schwermut ist die Not der Geburt des Ewigen im Menschen.“

Mich sprechen diese Texte auf eine tiefe Weise an, reden sie doch davon: die ungeliebte Dunkelheit als Chance, das Geheimnis „Gott“ zu berühren. Als Krankenhausseelsorgerin auf psychiatrischen Stationen leuchtete mir vor einiger Zeit eine Ahnung von dem auf, was Guardini bewegte. Ich kam mit einer Frau in Kontakt, die in unserem Krankenhaus Hilfe suchte. Sie war nicht mit Religion aufgewachsen, kannte keinen Glauben. Gott war keine bekannte Dimension in ihrem Leben. Doch sie begann zu reden.

Ihre Ehe war zerbrochen, die Kinder wohnten bei ihrem Ex-Mann. Sie hatte den Verlust ihrer Arbeitsstelle zu beklagen. Und dazu standen Operationen an, die eine neue Stellensuche erschwerten. Alle wichtigen Pfeiler in ihrem Leben waren gebrochen. So wurde sie wurde krank, Diagnose: Schwere Depression. – Sie schloss ihr holzschnittartiges Erzählen dieser persönlichen Katastrophen mit dem Satz: „Ich habe keine Hoffnung mehr, ich will nur noch sterben.“

Ihre Hoffnungslosigkeit bewegte mich sehr. Gerne hätte ich ihr Antworten gegeben oder Lösungen angeboten. Und gleichzeitig spürte ich, dass kein Wort, keine kluge Idee und auch kein frommer Satz sie in der Tiefe erreichen würden. So blieb ich einfach bei ihr, mit ihr in ihrer Dunkelheit, ihrer Verzweiflung, ihrer Todessehnsucht.

Obwohl ich ihr nichts hatte anbieten können, fragte sie mich, ob ich wiederkäme. Das tat ich dann am nächsten Tag.

Wieder erzählte sie, dass es ihr nicht gut gehe, dass sie alles als total dunkel erlebe. Kein Licht in Sicht. Auch dieses Mal blieb mir nichts anderes, als Zeugin ihrer Dunkelheit zu sein.

Ob ich morgen wiederkommen würde? Ich sagte zu, wieder 11 Uhr wie an den Tagen zuvor.

Sie berichtete erneut: Immer noch ganz dunkel. Ohne Hoffnung. Ohne die geringste Ahnung, ob das jemals wieder anders werden würde.

Die Treffen mit ihr wurden zum Ritual, täglich um 11 Uhr. Das schien ihr wichtig. Manchmal sagte ich ihr, dass ich Hoffnung habe. Sie glaubte mir das – doch sie sagte, dass sie für sich keine Hoffnung sehe. Es sei immer noch dunkel.

Einige Wochen lang trafen wir uns auf diese Weise, jeden Tag um 11 Uhr. Ich wurde zur Zeugin ihrer Hoffnungslosigkeit. Spürbar und zugleich unausgesprochen war da eine Suche nach Halt, nach einem Boden, der trägt, nach Trost. – Nach einer Weile wurde die Frau entlassen. Ich hörte später, dass sie wieder Fuß gefasst hätte und ihr Leben in die Hand nehmen konnte.

„Ich war krank, und ihr habt mich besucht.“ Diese Patientin hat mir geholfen, das Wort Jesu, das über dieser Predigtreihe steht, besser zu verstehen. „Ihr habt mich besucht.“

Besuch sein ist vielleicht eine der behutsamsten Weisen der Anwesenheit bei einem anderen Menschen, Besuch sein, ohne Erwartung. Wer einen Krankenbesuch macht, sucht einen anderen Menschen auf in seiner Not und erwartet nichts für sich selbst. Er oder sie stellt sich den Besuchten gewissermaßen für eine kurze Zeit zur Verfügung. Im Wort „besuchen“ ist die SUCHE enthalten. Für mich bringt dies zum Ausdruck, dass wir uns tatsächlich auf die Suche machen dürfen nach denen, die krank sind. Manche haben sich selbst in einer Krankheit im Dickicht ihrer Angst und Hoffnungslosigkeit verloren, so wie die Patientin. Und wenn ich be-suche, kann es sein, dass aus mir, der Besucherin, ein Gast wird, wenn die Suche durch eine Einladung beantwortet wird: „Tritt ein, sei nahe meinem Inneren, sei bei mir, teile mit mir, was ich habe: meine Dunkelheit, meine Not meine Ohnmacht.“

So war ich bei der Patientin „Gast“. Ich konnte ihre Not spüren. Ich spürte, wie es sich anfühlt, selbst nicht weiter zu wissen, Ohnmacht auszuhalten, nicht zu flüchten in ein wohlfeiles „Es wird schon wieder.“ Das hat mich Kraft gekostet und auch Mut, denn die Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit anderer Menschen berühren ja auch in uns eigene Dunkelheiten, Unsicherheiten und Ohnmacht.

Genau an dieser Nahtstelle im Nichts entsteht eine unsichtbare Verbindungslinie zwischen ihrer Not und meiner eigenen Not von Begrenztheit. Und genau da war ich gewiss, dass wir in aller Not, auch in dieser Krise, von etwas Größerem gehalten sind. Im täglichen gemeinsamen Eintauchen in die je eigenen „Dunkelheiten“ wuchs langsam aus den großen Sorgen Hoffnungskraft, eine leise Zuversicht im Herzen der Finsternis. Wundersam entfaltete sie sich wie der Keim in einer unansehnlichen Knolle, die in noch winterharter Erde ihren Wandlungsweg zur Blüte beginnt, gelockt von einer Sonne, die sich nicht sieht …

Und wäre es wohl vermessen zu glauben, dass genau darin Jesus selbst erfahrbar würde, uns gemeinsam an die Hand nimmt und ins Leben zurückführt …?

Wo ist Christus? – „Ich war krank, und ihr habt mich besucht.“

Diese Perspektive stärkt in mir immer wieder die Hoffnung, dass Gott uns genau an diesen kritischen Punkten nahe ist, auch wenn wir es oft nicht spüren. „Ich war krank, du hattest Hoffnung.“ Hoffnung auf das tröstliche „Wand an Wand“. Diese Hoffnung und das Vertrauen können zur Einladung werden, zu glauben, wie Psalm 34 sagt: „Nah ist Gott den zerbrochenen Herzen.“

In diesem Glauben kann ich auch „Meine engen Grenzen“ wahrnehmen, wenn ich in einer Situation eben nur das Leidvolle sehe. Aber da ist mehr. „Meine kurze Sicht“ auf das Leid, das Dunkel und die Ohnmacht, will geweitet werden mit dem Blick der Perspektive Gottes: Im Dunkel ist Licht. Gott will „meine kurze Sicht“ wandeln in Gottes Blick der Liebe, von der sogar das Dunkel spricht. Erfahren können wir diese Wandlung durch die Perspektive Gottes nur, wenn wir dem Schweren und Dunklen nicht ausweichen, sondern sie anschauen und in sie eintauchen bis dorthin, wo wir das Licht erahnen.

Was ist in solchen Situationen „das wichtigste Gebot“?

Gott suchen und lieben mit aller Kraft, aus ganzem Herzen und mit ganzer Seele – in allen Situationen, in Licht und Dunkelheit.

Und Jesus fügt gleichwertig die Nächstenliebe dazu: Den Menschen begegnen als liebens-würdige und liebens-werte Geschöpfe Gottes. Unabhängig davon, wie diese Nächsten gestimmt sind. Und manchmal mehrfach, wie auch der Engel dem zum Tode erschöpften Elija unter dem Ginsterstrauch nicht nur einmal das Lebensnotwendige bringt.

Ich vermute: Guardinis Tiefe, seine Liebe zu den Menschen, sein Einfühlungsvermögen als Seelsorger, seine Ausstrahlung und große Anziehungskraft bis über seinen Tod hinaus sind aus der Wunde seiner Schwermut entstanden. Sein Blick in die Tiefe, der mutig sucht, was dahintersteht, seine intensive Gottsuche und Zuversicht entstammen wohl auch dieser seiner Lebenswunde, die er schon als Kind durch die Schwermut seiner Mutter kennengelernt hat.

Guardini geht behutsam auf seine Schwermut zu. Und er lädt auf diese Weise auch uns unaufdringlich ein, auf nicht geliebte Seiten in uns zuzugehen, auch wenn sie uns zunächst erschrecken. In dieser Bewegung können wir erahnen und erfahren, dass Gott auch das sieht und zärtlich umfängt, was ich an mir nur schwer lieben kann.

Bis zum Lebensende hat die Schwermut viel von Guardini abverlangt: Manches konnte er nicht tun, weil die eigene Depression ihn niederhielt. Das hin- und anzunehmen ist nur möglich, wenn wir einen Sinn finden und eine Liebe suchen in dem, was ihm geschieht. Aus tiefen Wunden wachsen große Flügel.

So kann er authentisch sagen: „Die Schwermut ist die Beunruhigung des Menschen und die Nachbarschaft des Ewigen.“ – Gott selbst wohnt im Dunkel des Menschen, er ist bei ihm, bei uns, in Krankheit, Sorge, Dunkelheit und in der Pandemie – „Wand an Wand“.

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