Predigt: Pfr. Thomas Pfeifroth | 25. Oktober 2020
Liebe Schwestern und Brüder, ich habe die Nase gestrichen voll von Corona. Zum Glück nur im übertragenen Sinn!
Seit einigen Monaten bedaure ich es manchmal, dass ich in der Schule nicht Mathematik-Leistungskurs hatte. Dann würden mir die täglichen Nachrichten zum exponentiellen Wachstum, zur Inzidenz, zur Mortalitäts- und Letalitätsrate, das Zahlenwerk zur Übersterblichkeit und die aktuellen Fallzahlen in ihrer Kombination und Komplexität leichter eingängig sein.
Wir schauen auf dieses Virus – wie es sich ausbreitet und entwickelt. Das ist absolut wichtig. Wir schauen jedoch weniger auf uns, was das Virus mit uns macht. Das ist aber ebenso wichtig. Das Virus selber können wir momentan nicht ändern, außer seine Ausbreitung. Was jeder Einzelne von uns verändern kann, ist seine Haltung zu diesem Virus.
Corona als spirituelle Herausforderung
Was macht die Corona-Krise mit uns? Wie gehen Sie damit um? Wie deuten wir dieses Ereignis? Diese kleinen, winzigen Biester, die, biologisch betrachtet, nicht einmal zu den Lebewesen zählen, sind auch für mich eine spirituelle Herausforderung.
Schauen wir uns die Situation an, die wir jetzt in diesem Moment erleben! Der Kirchenraum ist unter anderem auch ein Gegenentwurf zur profanen Welt, ein heiliger Ort an dem andere Gesetze — himmlische – gelten. Wir sehen diese Sonderstellung beispielsweise beim Kirchenasyl. Doch bei Corona greifen nun zu Recht auch die staatlichen Hygienevorschriften. Sie müssen sich anmelden, Abstand halten, dürfen nicht singen, Maske tragen.
Es belastet mich, dass ich Ihre Gesichtsgestik nicht erkennen kann und die Kommunikation dadurch stark eingeschränkt ist. Im Pastoralteam nehmen wir bei manchen Gottesdienstbesuchern eine gewisse Aggression beim Einlassdienst wahr, der von Ehrenamtlichen der Gemeinde dankenswerterweise geleistet wird. Sie bekommen nicht selten den Frust ab, den Corona erzeugt – ein Indiz dafür, dass wir alle verunsichert und verängstigt sind.
Erschüttertes Vertrauen in der Krise
Um es allgemein auszudrücken: Die Vertrautheit unseres Lebens wird durch Krisen erschüttert. Wir sehnen uns nach dem Leben, das wir vor Corona hatten. Dieses gewohnte Leben ist erschüttert.
Schauen wir auf Jesus und seine Jünger! Was sich im Leben Jesu zeigte, ist genau beides: Vertrautheit und Krise. Die Jünger erwarteten den messianischen Helden; dieses Bild von Gott war ihnen vertraut. Doch statt eines siegreichen Wunders wird ihr Held mit Nägeln ans Kreuz geschlagen. Die Vertrautheit ihres gängigen messianischen Denkens kommt durch die Kreuzerfahrung in eine Krise, die in ihrer Brutalität nicht zu überbieten ist.
Wir aber hofften, dass er der sei, der Israel erlösen wird. So sprechen enttäuscht die Emmausjünger. Wir aber hofften … – es war die Hoffnung auf das Vertraute. Als Jesus Tage zuvor – mit Palmzweigen gehuldigt und erwartungsvoll umringt – in Jerusalem einzog, da blieben sie noch dem einfachen, ungebrochenen Muster treu: Gottes Herrschaft wird anbrechen! Und alle werden vernichtet, die sich dieser Macht widersetzen! Wir werden auf der Siegerseite sein!
Der kitschige Glaube der Jünger zerbricht unweigerlich am Kreuz. Das triumphalistische Weltbild zerbricht endgültig beim Anblick des geschundenen Leichnams Jesu am Kreuz.
Das Leben Jesu macht zwei urgewaltige Pole menschlicher Existenz sichtbar: Es ist auf der einen Seite die unmenschliche Krise des Kreuzes und auf der anderen Seite die schier übermenschliche Vollmacht seines Vertrauens. Beides: Kreuz und Vertrauen gehören zusammen.
Die Bibel erzählt von gewaltigen Offenbarungsmomenten, in denen Menschen ein vertieftes Gottvertrauen geschenkt wird: Die Himmelsleiter, der brennende Dornbusch, der Bundesschluss am Sinai oder als Jesus, sich den nach seinem Tod aus Angst verbarrikadierten Jüngern als Auferstandener mit seinen Wundmahlen zeigt.
Das Überraschende und Außergewöhnliche dieser Gottesbegegnungen zielt nicht auf das Überraschende und Außergewöhnliche an sich, sondern gerade auf das Gegenteil: Damit du wieder vertrauen kannst, zeige ich mich dir!
Unser aller Leben steht ab dem Drama der Geburt bis zu unserem letzten Atemzug in dieser Spannung von Krise und Beständigkeit. Es sind an sich widersprechende Aspekte, die einander entgegengesetzt sind. Aber ohne diese Spannung wird unser Leben kaum Kraft und Schönheit haben.
Wachstum in der Krise und durch die Krise
Jede Krise – sei es die Corona-Krise oder jedwede andere: Klima-Krise, Flüchtlingskrise usw. – zeigt uns, dass es uns nicht gelingen kann, uns das Leben zu unterwerfen – nicht einmal das eigene. Krisen gehören zum Leben. Wer dies nicht wahrhaben will, der wird entweder die Bedrohung vor dem Corona-Virus leugnen oder sich in ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis verrennen.
Beides! Das Leugnen des Virus, wie es beispielsweise die sogenannten Christen im Widerstand, eine Gruppierung der sogenannten Querdenkerbewegung, propagiert, um so ihrer Angst vor der Krise Herr zu werden, noch alle, die am liebsten nicht mehr atmen würden, um sich nicht der Gefahr des Virus auszusetzen oder die den Staat in der Pflicht sehen, allen Unbill des Lebens abzusichern – beide leugnen in ihrem Leben das Kreuz. Doch es gehört zum Leben.
Doch damit nicht genug. Selbst die Offenbarung Gottes ist krisenhaft, denn das Bisherige wird in Frage gestellt. Kein Mensch wird die Erfahrung Gottes einfach zur Kenntnis nehmen. Eine echte Offenbarung wird zum Einschnitt werden. Sie wird das Leben verwandeln. Die falschen Vorstellungen von Gott und uns selbst werden die Flucht ergreifen.
Unter dem Kreuz stehen Menschen und verhöhnen den Sterbenden. Sie bleiben ihrem einfachen Muster treu und rufen nach einem starken Gott: Erfülle unsere Vorstellung von Gott, dann wollen wir glauben!
Doch seine Botschaft ist nicht der Erfolg der vermeintlich Starken. Sondern der Glaube des Angefochtenen, die Hoffnung des Bedrängten, die Treue des Berufenen, die Liebe des Geschmähten. Es besteht nicht die geringste Chance, aus Gott eine Erfolgsgeschichte zu machen.
Jesus am Kreuz und seinem Vertrauen im Kreuz – darin liegt ein gewaltiger Gegensatz. Er vertraut trotz der Krise, verleugnet sie nicht. Er nimmt seine Krise als das, was sie ist, und wendet sich in ihr an seinen himmlischen Vater mit einem Klagepsalm, den er sicherlich mit jeder noch verbliebenen Faser seines Leibes ihm entgegengeschleudert und entgegengebrüllt hat: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? – Er schreit es mit uns!
Jesus lädt uns ein, die Kraft des Vertrauens zu wagen und sich von Krisen nicht brechen zu lassen.
Erst wenn wir sehen, dass Krisen und Vertrauen das Leben ausmachen, werden wir lernen zu bejahen, was uns mit unserem Leben zugemutet und zugetraut wird. Habe Mut, und habe Vertrauen! Das ist die innere Kraft, die Dich ändern wird und Dich der Welt als anderer Menschen zeigen wird!
Amen.