P. Prof. Dr. Dr. Felix Körner SJ

1. Adventssonntag 2021

Von 2002 bis 2008 habe ich in der Türkei gelebt. Wir waren eine kleine Jesuiten-Gemeinschaft in der türkischen Hauptstadt, in Ankara. — In Ankara steht auch die älteste islamisch-theologische Fakultät der modernen Türkei. Oft bin ich im Fakultätsgebäude gewesen. Einmal ergab sich im Gewühl zwischen zwei Vorlesungsstunden ein Gespräch, das mir bis heute zu denken gibt.
Ein muslimischer Theologiestudent hatte eine Frage, die ihn bedrängte
und die er unbedingt einmal einem Christen stellen wollte. Er war froh, mich zu sehen, wollte mich aber nicht aufhalten und ging deshalb einfach neben mir, während er seine Frage loswurde: »Ich heiße Hasan«, begann er. »Sie und ich, wir sind Theologen. Wir müssen die Menschen doch an Gott erinnern. Denn so können wir unsere Mitmenschen dazu bewegen, Gutes zu tun. – Das wollt ihr ja auch. Aber ihr Christen, ihr warnt die Leute nicht genug vor dem Endgericht. Wenn die Gläubigen nicht auch Angst vor dem Ende haben, dann geben sie sich doch keine Mühe. Daher meine Frage: Wenn den Jüngsten Tag nicht fürchtet – warum tut man denn dann als Christ überhaupt Gutes?«
So ungefähr formulierte er, was ihn beschäftigte. Eine gute Frage! Das
einzige Problem: Er brauchte eine schnelle Antwort. Wir hatten ja kaum Zeit. Wir waren doch auf den Gängen der Fakultät unterwegs zur nächsten
Vorlesung.
Das sind solche Augenblicke, in denen man merkt: Mit Menschen zu
reden, die einen anderen Glaubensweg gehen, das ist spannend. Die
Andersgläubigen stellen uns entscheidende Fragen. Sie helfen uns, unseren
eigenen Glauben besser zu verstehen; und sie geben uns Gelegenheit, besser zu erklären, was uns heilig ist.
Aber das sind auch solche Augenblicke, in denen man merkt: Jetzt kommt
es auf ein paar Sekunden an. Jetzt kommt es auf mich an. Und wenn ich mir
jetzt zu viele Sorgen mache, stelle ich mich vor lauter Aufregung vielleicht noch dem Geist in den Weg! Man kann sich ja auch vor lauter Ernstnehmen die Geistesgegenwart gerade wieder verbauen.
Ich versuche jetzt einmal, Schritt für Schritt auszudrücken, was mir in
diesem Augenblick alles durch den Kopf ging:
Hasans Anliegen ist erst einmal verständlich: Er studiert nicht nur aus
Privatinteresse; er bereitet sich auf einen Beruf vor. Was ihm offenbar
klargeworden ist: Als Religionsvertreter wird er eine Verantwortung haben. Er möchte für seine Mitmenschen und für die Zukunft seiner Gesellschaft Gutes bewirken. Hasan studiert aus Verantwortung. Wenn wir das »Verantwortung« nennen, dann stimmt das gleich mehrfach:
– Er möchte die Welt mitgestalten. Er sieht, dass seine Religion nicht nur
etwas fürs eigene Herz ist; nein, Gott will durch die Gläubigen die Welt
verändern. Gott nimmt uns in die Verantwortung.
– Zweitens spürt er: Andere Menschen werden mir in meinem Leben
anvertraut. Ich will ihnen helfen. Ich bin an manchen Punkten für sie
verantwortlich.
– Drittens aber empfindet Hasan auch: Wir werden am Ende der Tage vor
Gottes Gericht stehen. Und Gott wird uns Fragen stellen. »Was ist mit euch,
dass ihr einander nicht helft?«, kann die Frage lauten. So sagt es jedenfalls die heilige Schrift der Muslime. So steht es im Koran [Sure 37:25]: Gott fragt am Jüngsten Tag die Menschen: »Was ist mit euch, dass ihr einander nicht helft?«.
Da müssen wir antworten. Hasan ist überzeugt: Solche Fragen Gottes müssen wir uns schon heute stellen: Wieso helfen wir einander nicht? Wie können wir einander helfen? Heute die Antwort geben; auch das ist Verantwortung: die Antworten geben auf Gottes Gerichtsfragen, schon jetzt.
Ein weiterer Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als wir auf den
Gängen der theologischen Fakultät ein Stück zusammen gingen und er seine
Frage von der Gerichtsangst gestellt hatte, war dies: Hasan spricht als einer, der seine Glaubensgeschwister motivieren will. Aber als Motivationsgrund sieht er nur das Zittern vor der Strafe. Muss man denn als Muslim so denken? Nein.
Andere Muslime könnten es auch anders sehen. Sie können sagen: Wir dürfen mitwirken an Gottes Weltgestaltung; oder: Wir sehen die Notleidenden; ihr Leid spornt uns doch an, eine bessere Gesellschaft zu bauen [vgl. Sure 90:13–16].
Aber der Student Hasan hatte sich offenbar überlegt: Angst verbreiten, das wirkt am besten.
Dabei dachte ich mir auch: Der junge Muslim hier hat den christlichen
Glauben schon treffend gesehen! Denn es heißt ja tatsächlich bei Johannes:
»Furcht gibt es in der Liebe nicht« [1 Joh 4,18]. Jesus hat zwar von den
Schrecken der Letzten Tage gesprochen. Aber damit hat er erst einmal
aufgegriffen, was seine Mitmenschen befürchteten. Und nun, mitten in die
Schreckensbilder hinein, ruft Jesus seinen Freunden zu: Dann »richtet euch auf und erhebt euer Haupt: denn es naht eure Erlösung!« [Lk 21,28].
All diese Gedanken blitzten in mir auf. Und dann hörte ich mich, wie ich
Hasans Frage ganz kurz beantwortete: Warum tut man als Christ überhaupt
Gutes? – »Christen«, sagte ich, »Christen handeln aus Vorfreude!«
Da wurde unser Gespräch auch schon unterbrochen. Ich habe Hasan nie
wieder gesehen. Aber ich habe unseren kurzen Wortwechsel nicht vergessen.
Und ich muss sagen, ich war erstaunt über meine eigene Antwort: Wir handeln aus Vorfreude. Stimmt das denn? Schauen wir noch einmal, wie es Jesus heute im Evangelium sagt. Er lenkt den Blick auf unser »Herz« [Lk 21,34]. Das ist der Ort, wo uns klar werden kann, wer wir eigentlich sind; im Herzen können wir spüren, dass Gott uns bei sich haben will. Aber wir können dieses Gespür auch übertönen. Jesus warnt uns ausdrücklich davor: Das Herz kann dir »schwer« werden, sagt er.
Nun haben wir gerade in den letzten Monaten, in der Pandemie, gespürt,
wie uns das Herz tatsächlich schwer werden kann: vor Angst oder vor
Antriebslosigkeit. Wir sind wohl fast alle im vergangene Jahr einmal in die
»finstere Schlucht« geraten. Viele von uns haben nun Tricks entwickelt, wie
man da wieder herauskommt – oder zumindest, wie man in der finsteren
Schlucht weiterkommt. Aufschreiben, was man alles morgen wegschaffen will – die sogenannte To-do-Liste –, ließ manche weitersehen. Oder der Spaziergang; das tiefe Durchatmen; Sport. Das hat auch oft geholfen.
Aber der Weg durch die finstere Schlucht ließ uns doch auch die ganz
grundlegenden Fragen spüren: Was soll denn mein Leben? Was kann denn aus mir werden? – Und darauf geben Atemübungen natürlich keine Antwort. Jesus warnt uns auch vor den Versuchen, solche Fragen wegzuspülen: Der Rausch lässt dein Herz nachher nur noch schwerer zurück; und auch wenn du dich zur Ablenkung in deine Alltagsbesorgungen stürzt: Die Grundsorge lässt dein Herz doch wieder schwer werden. Denn so kann es nicht spüren, was Gott mit dir vorhat. Wie kommen wir da raus?
Es gibt keinen Trick. Wir können es nicht selbst machen. Deshalb sind
Jesu Worte auch keine Ratschläge. Zwar benennt Jesus eine Gefahr: zugedröhnt und selbstgeschäftig wird das Herz nicht erleichtert. Zwar scheint Jesus einen Tipp zu geben: Wachsam sein und Beten hilft [21,36]. Aber das ist nicht schon die Lösung, die Jesus zeigt. Die Lösung ist, dass Gott selbst uns entgegenkommt.
Und alles, was Jesus tut, tut er, damit die Menschen das spüren: Gottes neues Leben bricht an. Deshalb lehrt Jesus, deshalb heilt Jesus, deshalb feiert Jesus mit seinen Freunden, deshalb will Jesus einfach bei den Menschen sein, jeden Tag [Lk 21,37]. Er vermittelt das neue Lebensgefühl – mit Worten und Taten, mit Zeichen; und indem er einfach da ist. Er vermittelt den Menschen eine Erfahrung; die Erfahrung, dass das neue Leben Gottes so nahgekommen ist, dass Sie es schon spüren können; dass Sie sich vom neuen Leben schon ergreifen lassen können. Jetzt dürfen wir die Vorfreude empfinden, weil das gute Ende von allem schon erfahrbar ist. Jetzt heißt es: Richtet euch auf und erhebt euer Haupt. Das ist kein Befehl mehr, kein Tipp mehr, das ist die Erfahrung, dass Gottes neues Leben kommt.
Vielleicht war meine schnelle Antwort damals in Ankara gar nicht so
schlecht: Christinnen und Christen handeln aus Vorfreude. So – mit erhobenem Haupt, mit erleichtertem Herzen – können wir ja teilnehmen an Gottes neuem Leben. Diese Vorfreude öffnet uns das Herz – so spüren wir, wer wir wirklich sind, was wir werden können, was jetzt nötig ist, was die anderen jetzt brauchen, was ich selbst jetzt brauche; wozu ich hier bin. So spüren wir die Freude, an diesem neuen Leben schon mitzuwirken. Deshalb übernehmen wir Verantwortung in dieser Welt – aus der Vorfreude, die uns das Ziel spüren lässt, und Kraft gibt – und manchmal sogar Mut.
Und deshalb feiern wir Advent, Gottes Kommen – in der Vorfreude, die
uns Christus spüren lassen will: wenn er uns jetzt einlädt zu seinem Fest.

LK 21,25-28.34-36